Reisebericht: Notizen aus Asien

Auf "Dienstreise" nach Asien und Australien bin ich noch nicht (@ moddin: woher weisst du, dass ich genau dorthin dieses Jahr noch mal hinfliege?), meine "Dienstreisen" gehen zur Zeit nach Köln, Düsseldorf, Berlin, Zürich - und als Schmankerl mal nach Valencia oder Stockholm (davon müsste ich eigentlich berichten!).

Sorry, wusste ja nicht, dass es so geheim ist ;D
 
Die Fahrt vom Flughafen zum Hotel

Die Passkontrolle war indien-typisch, ebenso der anschließende Geldholversuch mit der Kreditkarte. Jetzt folgt das dritte Erlebnis, dass mich nach der Landung gleich in Indien eintauchen lässt: Dafür sorgen mein Abholer, der Chauffeur und sein Tata. Meinen Abholer muss ich erst einmal suchen. Gleich nach der Zollkontrolle warten nämlich hunderte Inder auf ankommende Passagiere. Sie stehen Spalier – links und rechts. Durch diese Gasse gehen alle Passagiere. Alle Abholer halten Schilder in den Händen. Auf diesen Schildern ist entweder das Logo der Reiseorganisationen abgebildet oder es steht der Namen eines Fluggastes drauf – es sind Namen, die mehr oder minder richtig geschrieben sind. Ich muss nach meinem Abholer länger suchen, denn mein Name ist eher minder richtig geschrieben. Es fehlt ein Buchstabe. Dieser kleine Umstand macht mich plötzlich zum Namensvetter eines sehr mächtigen Politikers, der zu seiner Amtszeit in der Welt nicht sonderlich beliebt war. Doch trotz falscher Schreibweise muss ich es sein, denn diese Schreibweise kommt meinem Namen doch ziemlich nahe. Ich gehe deshalb auf den Mann zu, der dieses Schild mit meinem falschen Namen hält. Es ist ein gut gekleideter Mann, mit schwarzer Buntfaltenhose, weißem Hemd und Krawatte. Er lächelt. Er spricht sogar Deutsch. Ich sage ihm, dass ich es bin, auf den er vermutlich wartet, doch dass mein Name falsch geschrieben sei. Das macht meinen Abholer sehr nervös. Er bittet um etwas Geduld, geht beiseite und telefoniert mit dem Handy. Bin ich nun der Mister aus Deutschland, den er zum Hotel geleiten soll, oder bin ich es nicht? Ich bin es offensichtlich, sagt die angerufene Instanz. Diese Auskunft lässt meinen Inder wieder lächeln, der mich abholen soll.

Mein indischer deutschsprechender Abholer packt spontan meinen Carbon-Koffer, meine schwarze Lederreisetasche und geht mir voraus, verlässt das alten Flughafengebäude, ich folge ihm, er geht dann vorbei an vielen Autos und gleich über die Strasse direkt zum einem Parkplatz, wo unter hunderten Tatas ein weißer Tata steht – ein indisches Auto, in dem sogar die Schonbezüge aus weißem Leinen sind, zumindest in meinem Tata. Dort wartet schon der Chauffeur auf uns. Er packt das Gepäck in den Kofferaum, öffnet dann meine Türe und schließt sie sanft. Ich sitze hinten, der Chauffeur und mein Abholer sitzen vorne. Der Chauffeur startet den Motor. Der macht ordentliche Geräusche: Tatas sind gewiss keine leisen Autos. Sie sind eher laut, gerade wenn man Gas gibt. Wir geben auch Gas und fahren dann ein wenig – vielleicht 15 Meter oder 20 Meter, mehr aber nicht. Dann bremsen wir. Die Bremse quietscht nicht einmal, denn es ist ein neuer Tata. Wir stehen wieder mitten in einer Autoschlange. Denn nicht nur unser Tata ist gerade gestartet, sondern ganz viele anderen Tatas auch. Alle Tatas wollen aus dem Flughafen heraus. Es wird kurz Gas gegeben, dann abgeremst und immer wieder gehupt. Hupen, hupen, hupen – immer wieder hupen. Dazu die knattrigen Motorengeschäusche, die quiteschenden Bremsen. Es ist eine indische Auto-Klangsinfonie. Nichts ist mehr so ruhig wie in Singapore. Alles ist jetzt laut an diesem Abend in Indien vor dem Flughafen. Es geht nur im Schritt-Tempo voran. Ich höre das Hupkonzert. Es ist für mich nur ein wildes Hupen. Erst Tageb später lerne ich kennen, dass es kein Hupkonzert ist, sondern dass jede einzelne Huperei eine wichtige Bedeutung und Nachricht für die anderen Verkehrsteilnehmer in Indien hat. Hupen in Indien regelt den Verkehr.

Ich sitze auf der Rücksitz in unserem klimatisierten Tata und schaue mir aus dem Fenster nach draussen und die anderen Autos an: Jeder Wagen hat viele Dellen – und zwar überall, vorne am Kotflügel genauso wie hinten an der Stosstange. Manche Autos sind fahrende Rostlauben. Viele haben keine Klimaanlage, die Fenster sind deshalb geöffnet. Doch alle Autos machen Geräusche, laute Geröusche: Die Bremsen quietschen, die Motoren knattern, die Hupen hupen – und es geht trotzdem nur im Schritt-Tempo voran. Ob ich noch vor Mitternacht im Hotel ankomme? frage ich meinen Abholer. Ja, sagt er und lächelt. Der Stau ist nur hier auf dem Indira Gandhi Flughafen, meint mein Abholer: jedes Auto, das diesen Flughafen verlässt, wird von der Polizei kontrolliert. Das sei der Grund für diesen Stau. Ich müsse mich nur noch 20 Minuten gedulden – dann hätten wir es geschafft. Danach sind wir bald im Hotel, meint er. Er meint es richtig. Nach dem Flughafen geht es zügig voran Richtung Hotel und Bett.

Ich wohne in Neu Delhi, nicht weit entfernt vom Haus des indischen Ministerpräsidenten. Das liegt in einem ruhigem Teil der indischen Hauptstadt. Die Strassen dort sind sehr großzügig angelegt nach britischem Kolonialmuster. Mein Abholer erklärt mir alles – auch, wo wir gerade vorbeifahren. Doch es ist Nacht, man sieht nichts. Erst am nächsten Morgen sehe ich mein Viertel, und erkenne die britische Kolonialarchitektur.

Wir sind tatsächlich sehr bald am Hotel angekommen. Am Hoteleingang öffnet mir ein groß gewachsener Doorman mit Turban die Türe – so groß gewachsen und von solch stattlicher Statur, dass er mir fast Furcht einflösst (dabei ist er ein liebevoller Mensch, wie ich ihn am nächsten Tag kennen lerne). In der Halle sorgt nach der Ankunft erst mal mein Abholer für meinen Check-In. Ich muss mich um gar nichts kümmern. Ich bekomme einfach mein Zimmer.

Ich bin müde, auch wegen der kleinen Zeitverschiebung von Singapore nach Indien. Nach alter Singaporezeit ist es ja schon weit nach Mitternacht. Trotz Müdigkeit will ich gleich nach meinem Zimmerbezug mein IPhone aufladen. Das ist Gewohnheit. Ich tue das mit dem Adapterstecker, der mir weltweit hilft. Doch hier in diesem Hotel passt der Adapterstecker in keine einzige Steckdose – nicht wegen fehlender Steckermöglichkeiten, sondern eher wegen dem Platzbedarf des Adapters: er stößt in meinem Hotelzimmer immer irgendwo an. Am Spiegel wäre beispielsweise Platz, doch dazu müsste man den Spiegel abnehmen. Der ist aber fest angeschraubt. Ich rufe deshalb über die „0“ am Zimmertelefon via Rezeption den Technical Support des Hotels, man verbindet mich. Der Support kommt gleich mit zwei Inder: Ich erkläre, dass mein Adapeterstecker in keine Steckdose passt. Ich zeige den beiden Inder den Spiegel. Wenn der Spiegel weg wäre, könnte ich auch den Adapeterstecker in die indische Steckdose einstecken, sage ich. Ich mache es auch vor und versuche, den Adapter in die Steckdose am Spiegel einzustecken. Das geht aber nicht. Beide Inder schauen mich nur nett an, lächeln und sagen: Stecken sie doch einfach mit dem normalen Stecker ihr IPone an (also ohne Adapter). Aber halt doch bitte, ist das ernst gemeint: Wie, was, wo? Ich bin doch in Indien! Sogar in den USA brauche ich einen Adapter! Und ich soll jetzt in Indien einfach den Stecker in die Steckdose reinstecken? Ja, sagen beide Inder, da passiert nichts. Kein Volt und kein Watt Unterschied – und der normale Steckeranschluss passt auch! Nun gut, wenn man das so sagt, dann probiere ich es einfach aus – aber nur in Anwesenheit der beiden Inder. Schlimmstenfalls ist mein IPhone ja hinüber, das wäre sicherlich zur verkraften, aber dafür bräuchte ich Zeugen - nämlich beide Inder, die da kurz nach Mitternacht in meinem Hotelzimmer stehen und mir ernsthaft helfen wollen. Ich stecken einfach den Stecker in die Steckdose, wie es beide Inder mir sagen - und es passt. Auch die Spannung stimmt. Nichts expoldiert. Mein IPhone geht beim Aufladen nicht kaputt. Ich habe auch keinen Adapter gebraucht. Ich merke jetzt einfach: Ich bin zu müde und sollte schnellstens ins Bett, bevor ich weitere Vorurteile gegen Steckdosen in Indien und allgemein gegen Inder habe ...
 
Meine Reiseleiterin und mein Tuc Tuc Fahrer

Morgens kommt meine „Indien-Chefin“ ins Hotel. Sie ist eine deutsche Frau in meinem Alter. Wir haben nach meinem Frühstück 9 Uhr und die Lobby als Treffpunkt vereinbart. Dort wartet sie auf mich, sie sitzt in einem Sessel und blättert im Aktenordner. Ich sitze ebenfalls dort und beobachte sie. Wir schauen uns an. Doch sie reagiert nicht. Sie erwartet bestimmt einen Mann des älteren Semesters - mindestens 55 oder 60 Jahre alt, vielleicht sogar noch älter. Meine grauen Haare reichen da nicht aus. Sie ist meine Reiseleiterin, obwohl sie meine Reise nicht leitet (aber ein Zitronenfalter faltet ja auch keine Zitronen, um mal diese Analogie anzuführen). Sie ist dafür verantwortlich, dass ich immer einen Wagen, einen Chauffeur, einen ortskundigen Betreuer und einen Dolmetscher habe – egal, ob ich auf dem Campus bin oder in der Altstadt von Delhi. Und sie ist verantwortlich, dass ich immer in Sicherheit bin. Das ist ihr sehr wichtig. Ziemlich viel Aufwand für mich die nächsten Tage, denke ich mir. Doch das scheint in Indien ganz normal zu sein, ich brauche da kein schlechtes Gewissen zu haben, sondern eher ein gutes. Ich bin in besten Händen. Das merke ich aber erst später.

Nachdem meine Reiseleiterin genügend lange in ihrem Aktenordner geblättert und immer wieder das Hotelpublikum gecheckt hat, ob da ihre Zielperson dabei ist – erst nachdem sie dies alles sehr lange gemacht hat, stehe ich auf, gehe auf sie zu und gebe mich als ihre Zielperson zu erkennen: „Hallo, da bin ich, ich bin Herr Donnergeräusch, Andreas Donnergeräusch!“ Sie ist eine ganz nette Frau, sogar eine fürsorgliche, wie sich später herausstellt. Ich frage und sie erzählt: Sie wohnt seit 12 Jahren in Delhi, sie ist verheiratet und sie bereitet sich immer intensiv auf jeden Gast vor, um den sie sich kümmern soll. Ich stelle Fragen, Fragen und nochmals Fragen. Meine Neugier ist gewiss manchmal eine Unart von mir, aber ich kann nicht anders. Ich will meine Reiseleiterin ja kennen lernen. Genau genommen müsste es ja umgekehrt sein. Eigentlich müsste sie mich ja fragen, was ich mir so wünsche. Doch ich gebe das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand: Wer fragt, der führt. Und ich will wissen, ob ich meiner Reiseleiterin vertrauen kann. Ich kann ihr vertrauen: Ihr Aktenordner ist kein bloßes Schmuckstück, da stehen schon Sachen über mich drin: Kein Angebot an mich, ein „Touristen-Handycraft-Teppichweb-und-Nepp“-Geschäft zu besuchen, steht bei ihr auf der Don’t-Liste ganz oben. Und genau dieses wird trotzdem passieren, aber ich bin da ein paar Tage später nicht böse.

Wir gehen gemeinsam den Plan für die nächsten Tage durch. Heute, am ersten Tag, will ich Delhi auf eigene Faust erkunden. Schliesslich ist Sonntag. Mein freier Tag also. Davon hat meine Reiseleiterin schon gehört und findet das gar nicht gut: zu gefährlich, ja viel zu gefährlich gerade in Alt Delhi, wo ich hin möchte! Ich solle doch den Wagen und den Chauffeur nutzen, beides stehe mir zur Verfügung, ich brauche dafür nichts zu bezahlen. Auch ein deutschsprechenden Führer könne sie noch spontan organisieren. Nein, ich brauche keinen Wagen, keinen Chauffeur, und keinen Führer. Ich brauche nur die Adresse der Deutschen Bank in Delhi, um dort mit meiner Kreditkarte bares Geld abzuheben. Sie gibt mir die Adresse – gar nicht so weit entfernt vom Hotel an einem Platz, wo sich die fast alle prominenten Finanzinstitute in Delhi angesiedelt haben. Das heute Sonntag ist, fällt mir gar nicht auf. Doch es ist egal: Geldgeschäfte macht man in Indien auch am Sonntag. Ich sage meiner Reiseleiterin, dass ich mir gerne ein Tuc Tuc mieten wolle. Ich frage sie, wie viele Rupien es zur Deutschen Bank und anschließend nach Altdelhi kostet. 120 Rupien, mehr solle ich nicht zahlen, sagt sie. Und Trinkgeld? das sei da schon dabei. Wirklich nur 120 Rupien, frage ich? Ja, bitte nicht mehr, sagt sie: 120 Rupien! 120 Rupien für die Fahrt zur deutschen Bank also, wiederhole ich, das ist doch viel zu wenig! Nein, sagt sie - nein, nein und nochmals nein: 120 Rupien für die Fahrt zur Deutschen Bank, da soll dann der Tuc Tuc Fahrer auf mich warten, um mich anschließend Altdelhi weiterzufahren, dafür soll ich 120 Rupien zahlen. 120 Rupien für die Fahrt nach Altdelhi via Deustche Bank also. Das sei ein gutes Geschäft für ihn, sagt meine Reiseleiterin. Denn heute ist ja Sonntag, da geht es richtig schnell. Am Montag bräuchte der Tuc Tuc Fahrer vom Botschaftsviertel, wo ja unser Hotel liegt, nach Altdelhi mindestens 3 Stunden. Heute ist aber Sonntag, da geht es schnell.

Nachdem alles Wichtige auch für die Folgetage besprochen ist, beschließe ich erst einmal, die Umgebung des Hotels zu erkunden. Es liegt in Neu Delhi im Botschaftsviertel nicht weit entfernt vom Haus des indischen Ministerpräsidenten. Das Viertel ist geprägt vom britischen Kolonialstil, sowohl der Strassen- und Stadtplan wie auch die Gebäude zeugen davon. Das sehe ich, nachdem ich das Hotel verlasse. An der Hotelausfahrt stehen erst einmal schwer bewaffnete Polizisten mit dem Maschinengewehr im Anschlag. Sie grüssen militärisch, als ich an Ihnen vorbei gehe. Ich grüsse zurück und bin dann in indischer Freiheit, aber völlig unbewacht. Doch da ist niemand, der mich bedroht: Ich bin der einzige Fußgänger weit und breit. Kein Inder ist zu sehen, aber auch kein Hotelgast und auch kein Botschafter oder seine Frau. Niemand geht dort zu Fuss. Ab und zu fährt ein Tata vorbei. Selten ein besetztes Tuc Tuc. Ansonsten herrscht Ruhe. An Sonntagen wird also auch in Neu Delhi nicht regiert und nicht gebotschaftet. Vor allem macht man an Sonntagen keine Spaziergänge in diesem Viertel. Ich bleibe der einzige Fußgänger. Die Botschafter, deren Personal und deren Familien scheinen also daheim zu bleiben oder mit dem Auto zu fahren. Ich bin allein. Das bemerkt ein Tuc Tuc Fahrer, der genauso langsam fährt, wie ich gerade gehe. Er schaut mich an und grinst. Es ist ein kleiner Tuc Tuc Fahrer. Er ist vielleicht 165 cm gross, hat schwarze Haare und einen Bart, sein Gesicht ist sehr schmal. Er ist etwa 35 Jahre alt. Er grinst frech zu mir herüber. „No“,sage ich, „no! I will walk!“ Ich sage das sehr streng! Ich fühle mich von ihm bedrängt. „No, please pass!“, sage ich noch strenger. Er scheint mein schlechtes Englisch zu verstehen und gibt mit seinem Tuc Tuc Gas. Da ist er weg – und ich bin wieder alleine mit mir, mitten Neu Delhi im Botschaftsviertel. Ich gehe spazieren, schaue mir die herrschaftlichen Häuser an, die breiten, leeren Strassen und genauso die verkehrsruhigen Rondelle – und ich finde das alles eigentlich gar nicht spannend, denn so toll sind die Häuser hier nicht und auch nicht die leeren, breiten Strassen mit ihrem Allee-Charakter und auch nicht die von den alten britischen Kolonialmacht angelegten Rondelle. Hier fehlt einfach Leben in Neu Delhi! Da ist ja gar nichts los! Da ist es ja ruhiger als bei einem Sonntagsspaziergang in München am Nympenburger Kanal.

Und genau bei diesen Überlegungen kommt wieder der Tuc Tuc Fahrer von vorhin vorbei. Er grinst wieder frech. „Ok“, sage ich, zur Deutschen Bank und zeige ihm die Adress-Notiz meiner Reiseleiterin, die diese Adresse aufgeschrieben hat. „No problem“ sagt er. Ich steige in sein Tuc Tuc. Er gibt schon Gas gleich Richtung Deutsche Bank, ohne das wir den Fahrpreis geklärt hätten. „120 Rupien, ok?“ frage ich laut, um das Tuc Tuc Geräusch des Zweizylinders zu übertönen. „Pay so much, as you wish!“, antwortet er genauso laut und gibt gleich noch mehr Gas, damit meine Zahlungsbereitschaft erhöht wird. Dabei habe ich überhaupt keine Rupien in meinen Hosentaschen (da sind nur der Hotelzimmerschlüssel und in der Gesäßtasche ein paar One-Dollarnoten). Und eigentlich bin ich ja gar noch gar nicht bereit und fertig für meine eigene Delhi-Erkundung. Ich habe ja nach der Besprechung mit meiner Reiseleiterin nur deshalb das Hotel verlassen, um kurz Spazieren zu gehen, um die nähere Umgebung des Hotels kennen zu lernen. Und jetzt sitze ich plötzlich in einem knattrigem Tuc Tuc: Dort habe ich eben gerade ein Versprechen abgegeben, dass ich für die Fahrt 120 Rupien bezahle, die ich nicht einmal habe. Ob das gut geht? ich habe ein schlechtes gewissen. Wer wird mich retten, wenn ich keine Rupien bekomme? Meine Reiseleiterin? Das Hotel auf Vertrauensbasis? Die Lufthansa? Da sitze ich nun in diesem Tuc Tuc und mache mit meinen beiden Händen erst einmal den Vollständigkeitscheck: Ist der Reisepass am Mann? Ist die Kreditkarte dabei? Beides ist in meiner Weste, ich erfühle es. Das ist schon mal gut. Auch das IPhone fühlen meine Hände. Dann lass uns mal losfahren, denke ich, auch wenn ich keine Rupien habe. Es wird schon gut gehen.

„Welcome to my little Helicopter!“, sagt stolz mein Tuc Tuc Fahrer und besser könnte man ein Tuc Tuc nicht beschreiben. Es ist ein kleiner Strassen-Helicopter, der mich zur Deutschen Bank am Platz soundso fährt... Mein Tuc Tuc Fahrer sitzt vorne als Pilot, und hinten sitze ich, als sein Gast. So fahren wir auf Neu Delhis Strassen. Ich habe plötzlich das Gefühl, dass ich heute einen ganz besonderen Tag in meinem Reiseleben erlebe – einen Tag ohne Rupien in der Hosentassche und in einem Tuc Tuc Helicopter mit einem indischem Piloten, der mich später bis nach Alt Dehli bringen wird. Ich starte also gerade in ein Abenteuer, obwohl ich bewusstseinspflichtig weiss, dass ich diesen sympatischen Tuc Tuc Helicopter-Piloten augenblicklich gar nicht entlohnen kann, weil es mir an den Rupien fehlt. Mein Tuc Tuc Fahrer aber ist stolz auf seinen „little helicopter“. ... (davon aber später, gerade muss ich kochen)
 
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Rupien im World Trade Center New Delhi

Ich bin nicht einmal 12 Stunden in Indien, und habe schon viel erlebt: Zuerst einen Grenzbeamten, der minutenlang meinen Reisepass studiert. Dann den Geldwechsler am Flughafen, der vergeblich eine Kreditkarten-Transaktion versucht. Anschließend der Stau im Ankunftsbereich, der ein Hupkonzert auslöst. Schließlich im Hotel meine Vorurteile gegen indische Steckdosen, die um Mitternacht von zwei indischen Hoteltechnikern mit Turban ausgeräumt werden.

Ich habe also schon viel in den ersten Stunden erlebt. Und jetzt nach der ersten Nacht sitze ich bereits um 10 Uhr vormittags völlig ungeplant und spontan in einem Tuc Tuc – spontan deshalb, weil ich den Tuc Tuc Fahrer nett und sympathisch finde und nur darum in sein Tuc Tuc eingestiegen bin. Wir fahren zur Deutschen Bank. Dort möchte ich mit meiner Kreditkarte Bares holen, denn ich habe keine Rupien. Mein Tuc Tuc Fahrer weiß das zum Glück nicht. Er rechnet damit, dass ich ihn bezahle (notfalls habe ich ja ein paar Dollar in Gesäßtasche) und er redet stolz von seinem „little helicopter“, wie er sein tuckendes Dreirad-Gefährt nennt. Er erzählt mir sehr viel von seinem Tuc Tuc, von seinem Helicopter und später auch von seiner Familie.

Sein Gefährt schaut auch irgendwie aus wie ein Straßen-Helicopter. Es hat drei Räder - vorne eines, hinten zwei. Der Fahrer sitzt vorne, wie auf einem Moped. Der Fahrgast sitz hinten auf einer kleinen roten Kunstlederbank, genau auf der Hinterachse. Eine Zeltplane als Dachersatz schützt den Kopf vor Sonnenstrahlen oder vor seltenen Regentropfen. Bequem kann auf dem Hintersitz des Tuc Tucs ein Mensch sitzen. So würde es der TÜV in Deutschland vermutlich auch zulassen: Tuc Tuc - Tuc vorne ein Fahrer, Tuc hinten ein Fahrgast, und Tuc Tuc für den Zweizylinder. In Indien gibt es aber keinen TÜV: Wenn man vertraut ist, können deshalb sogar zwei Menschen hinten sitzen, dann wird es aber schon etwas eng. Mit der vertrauten Lebenspartnerin würde das nach west-europäischen Sichtweisen schon noch klappen - bei eine westeuropäischen Ehekrise würde es aber nicht mehr klappen, denn da wäre es halt etwas zu kuschelig.

In Indien klappt es aber auf jeden Fall - egal, ob man sich vertraut ist oder nicht. Da fahren schon mal 9 Inder in einem Tuc Tuc gemeinsam – 3 sitzen auf den Bank, 2 knien davor, einer liegt auf dem Schoss der Sitzenden, zwei weitere Inder stehen am Rand und halten sich am Dach fest und vorne auf dem Fahrersitz kann neben dem „Piloten“ auch noch ein Fahrgast irgendwie untergebracht werden. Auch auf der Fahrt zum Bankenplatz in Neu Delhi sehe ich schon einige dieser doch sehr mit Fahrgästen voll gestopfte Tuc Tucs – und das, obwohl an diesem Wochenende nicht viel los ist auf Neu Delhis Straßen. Genau genommen sind die Straßen leer und wir kommen mit der Höchstgeschwindigkeit von 40 Kilometern und mit dem tuckenden Zweizylinder dem Bankenziel schnell näher.

Das Ziel ist ein Platz, wo alle großen internationalen Banken ihre Niederlassungen haben. Meine Reiseleiterin hat mir die Adresse auf indisch aufgeschrieben, ich habe sie meinem Tuc Tuc Fahrer gegeben er steuert das Ziel nun an. Auf der Fahrt dorthin stelle ich mir vor, wie dieser Finanz- und Bankenplatz wohl so aussehen wird. Ich kenne ja solche Plätze aus Tokio, Hong Kong, Singapore oder Kuala Lumpur. Dort sind die Banken hoch gebaut. Indien entwickelt sich erst gerade zum einem wichtigen Markt. Deshalb sind die Banken vielleicht noch nicht so hoch hinaus gebaut wie in den oben genannten Städten. Bestimmt werde ich aber in New Delhi herrschaftliche Bankvillen im britischem Kolonialstil vorfinden oder mittlerweile vermutlich sogar ein paar einfache Hochhäuser, wie man es von Finanzinstituten zumindest gewohnt ist. Bestimmt sehe ich Glasfassaden und auch moderne Architektur. Schliesslich ist an diesem Platz auch das indische World Trade Center. Doch dort an diesem Platz angekommen bin ich verwirrt: Ich sehe keine Gebäude, die nach viel Geld aussehen. Der Platz ist ein einfaches Rondell, nicht einmal ansprechend. Um den Rondellkreis herum sind fast nur Zweckbauten aus den siebziger Jahren, viel Beton also. Britische Kolonialarchitektur sehe ich nicht.

Mein Tuc Tuc Fahrer fährt mehrmals im Kreis – und ich schaue dabei, ob ich irgendwo das Logo der Deutschen Bank sehe. Auch in den Seitenstrassen sehe ich nichts. Wo ist also nur die Deutsche Bank? Wir fahren ganz langsam schon das vierte mal im Rondellkreis herum. Mein Fahrer macht die Augen auf und sucht was Deutsches und die aufgeschriebene Adresse - aber er findet nichts. Und ich schaue besonders nach dem Logo der deutschen Bank, das mir ganz bekannte ist. Aber das Logo und die Adresse der Deutsche Bank ist nicht zu finden. Also bitte ich meinen Tuc Tuc Fahrer, an der HSBC Bank anzuhalten. Dieses Bank kenne ich. Vielleicht spenden die Bänker dieses Instituts mir heute mit meiner Lufthansa Creditkarte ja etwas Bargeld in Form von Rupien. In Malaysia wollten sie es ja nicht tun. Doch auch in Indien bleiben sie hart: no money mit der Lufthansa-Karte. Die Karte hat einen Chip, und deshalb bekomme ich kein Geld, sagt man mir. Mit Chip Kreditkarten und ohne Kenntnis des persönlichen PINs könne man mir kein Geld geben. Mir kommt die Antwort immer noch komisch vor. Aber es scheint tatsächlich so zu sein: Man bekommt bei einer Bank kein Geld mehr, wenn man eine Chip-Kreditkarte hat und seinen persönlichen PIN nicht weiss.

Ich versuche es dann gleich bei einer anderen Bank gleich im selben Gebäude: Dort sehe ich eine hübsche Inderin am Tresen. Ich erkläre ihr mein Dilemma mit Chips, Pins und allem drum und dran – und sie nickt so nett und freundlich bei meiner Erzählung, dass ich mir Hoffnungen mache: Habe ich bei ihr eine Chance? Wirkt bei ihr mein Charme? Mein Charisma sogar? Es wirkt alles nichts – vielleicht fehlt es auch am Charisma. Es tue ihr so leid, aber sie könne mir nur Geld geben, wenn ich ein Konto eröffnen würde – sagt die hübsche Inderin und lächelt mich an. Doch Geld gäbe es für mich leider nicht. Ich solle es doch besser im World Trade Center probieren. Dort gebe es professionelle Moneychanger. Die kosten ein bisschen, die geben mir aber bestimmt Geld. Da soll ich es also probieren, sagt die nette Inderin. Also mache ich es.

Auf zum World Trade Center! sage ich. Ist nicht weit weg, sagt mein Tuc Tuc Fahrer. Es sind in der Tat nur 200 Meter. Dort steht nun dieses World Trade Center. Es ist kein Hochhaus (wie man es erwarten würde), sondern ein vielleicht 8 stöckiger weißer Betonbau. Auch ein paar Fenstern sind da drin. Vor dem Bau gibt es eine Mauer und der Eingang ist schwer bewacht und auch bewaffnet. Ich werde wie am Flughafen abgegriffen und kontrolliert. Erst dann darf ich in das Gebäude. Ein World Trade Center hätte ich mir in Neu Delhi anders vorgestellt – etwas einladender und heller. Doch innen schaut es duster aus. Sehr duster. Es gibt in den dunklen Gängen nur ein paar Neonlichter. Einmal stolpere ich sogar, weil ich kaum was sehe. Rechts und links sind die Büros. Sie schauen eher wie düstere Kioske in einer dunklen unwirtlichen Bahnhofsumgebung aus – eine Umgebung also, wo normale Menschen nicht hingehen würden.

In einem Gang ganz ohne Fenster aber mit Neonlicht finde ich schließlich ein Büro mit der Aufschrift Money und Change. Das muss es sein! Der Mann dort spricht sogar Englisch. Sehr gut sogar. Es ist ja auch das World Trade Center, da darf man das erwarten. Ich zeige ihm meine Lufthansa Kreditkarte und er fragt, wie viele Rupien ich haben wolle: 50.000 sage ich. Da schaut er plötzlich ganz ernst drein und meint: no, no! no chance! Er greift zum Telefonhörer und telefoniert. Sehr bald kommen zwei weitere Inder. Sie diskutieren mein Problem auf indisch und sagen mir mal auf englisch No, Yes, No, Yes und dann ein scheinbar endgültiges No. No Chance!

Ich werde zornig. Ich schimpfe auf Indien und die Inder. Kann ich hier gar nicht bezahlen, obwohl ich Geld habe? Ich schimpfe also. Schimpfen wirkt immer – mal wirkt es gut, mal eben schlecht. Man weiss es nicht vorher. Mal sehen, wie es in Indien wirkt. Ich blicke auch nicht mehr freundlich drein, ich lege mir auch einen Befehlston zu: „Change Money now ! Immediatly! I am a very important person! Here my Passport!“ Oft hilft das. In Indien wirkt mein Schimpfen tatsächlich. Das liegt vermutlich nur daran, dass Indien mal eine britische Kolonie war und die Inder deshalb den Briten dienen mussten. Bis heute spürt man deshalb überall in Indien noch eine ausgeprägte, ja fast schon devote Dienstleistungsoriertierung.

Mein Schimpfen wirkt: „Please wait“, sagt einer der gerufenen Inder genauso ernst wie ich gerade drauf bin und verschwindet. Ich muss warten. Nach 5 Minuten werde ich gebeten, in ein anderes „Büro“ zu gehen. Man geleitet mich dorthin. Dort steht der Inder, der vor ein paar Minuten verschwunden ist. Ich bekomme 50.000 Rupien, sagt er: Das koste aber! Er wird genau und präzise: 15 % kostet es. Er nimmt einen Stift und einen Zettel. Dann zeichnet er mir seine Kalkulation auf. Sie ist sehr übersichtlich: 5 % müsse er an die Kreditkartengesellschaft zahlen. 5 % betrage sein Wechselkursrisiko. Und 5 % wolle er an diesem Geschäft verdienen. Das macht zusammen 15 %! Wenn ich einverstanden bin, dann zahlt er mir 42.500 Rupien aus und belastet meine Lufthansa-Karte mit 50.000 Rupien. Wenn ich nicht einverstanden bin, dann komme man nicht ins Geschäft. Ich solle mich also entscheiden. Ich gehe auf sein Angebot ein, denn ich fühle mich im Moment hilflos. Ich brauche Bares, aber ich weiß nicht, wie ich Bargeld hier, jetzt und heute unproblematisch bekommen soll. Also schlage ich ein. Zufrieden bin ich aber nicht. Ich fühle mich etwas ausgenutzt, ich fühle mich sogar etwas hilflos in diesen dunklen Gängen des World Trade Centers. Ich vergesse sogar das Handeln. Ich ärgere mich.

Doch ich sollte mich nicht ärgern, denn es war ein faires Angebot des Inders: Als ich zwei Wochen später auf dem Münchner Flughafen und anschliessend bei meiner Hausbank das Restgeld zurücktauschen wollte, hat es mir echt die Sprache verschlagen: Der Abzug vom Tageskurs sollte im ersten Fall fast 40 % betragen, und meine Hausbank wechselt überhaupt keine Rupien: zu teuer, sagt die Hypovereinsbank, das machen wir also nicht. Der reale Wechselkurs in Deutschland ist also wesentlich höher als das faire Angebot des indischen Moneymakers. Man mag mir das nicht glauben, aber es ist wirklich so.

Da gelobe ich doch im Nachhinein den indischen Moneymaker im World Trade Center als den wirklich fairen Partner und komme zurück nach Delhi. Das Wechselgeschäft geht dort nun seinen Weg: Der indische Moneymaker telefoniert mehrfach, kopiert meinen Reisepass und meine Kreditkarte und lässt sich alles zigmal autorisieren. Ich muss vieles unterschreiben. Am Schluss zählt dann der Inder aus dem World Trade Center mein Geld in kleinen Scheinen ab: 42.500 Rupien - ein echtes Bündel Geld, denn die höchsten Noten sind in diesem Bündel 500 Rupien Scheine. Höhere Noten bekomme ich nicht. Ich verstaue das Geld in meinen Hosentaschen, aber auch in meiner Weste. Die Bündel sind dick. Man fühlt sich plötzlich reich. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich ja viel zu viele Rupien habe. 50.000 Rupien waren wohl zu hoch gegriffen, viel zu hoch. Damit komme ich in Indien bestimmt über die Runden, wenn ich mal eine Rechnung nicht mit meiner Kreditkarte zahlen kann. Obwohl ich ja nur 42.500 Rupien erhakten habe von den 50.000 bezahlten Rupien - so könnte ich mir beispielsweise damit in Delhi fast 10 Jahre eine durchschnittliche Wohnung mieten, oder 4.200 Coca Colas trinken, oder fast 400 mal von Neu Delhi nach Alt Delhi zum teueren Touristentarif in einem Tuc Tuc fahren.

Jedenfalls habe ich jetzt genügend Bargeld, und finde das sehr beruhigend. Ich muss also nicht mehr eine Bank besuchen, um dort mit der Lufthansa-Kreditkarte (mit Chip) um Geld zu betteln. Zu kurz ist meine Zeit in Indien. Deshalb ist es mir auch egal, dass ich 15 % fürs Wechseln bezahlt habe. Ich will Indien erleben, freue mich auf Alt Delhi, auf meine Besuche in der Universität von Varanasi und auf vieles mehr. Dabei vergesse ich in dieser Situation im World Trade Center gerade, dass die erlebte Geldwechselaktion schon ein richtiges und auch ein einmaliges Erlebnis war.

So @ Schimmelreiter: Ich muss auch heute jetzt wieder kochen – genau genommen braten!

Ich berichte weiter, sobald es die Zeit zulässt, vielleicht sogar morgen, denn da habe ich einen freien Tag.
 
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ein toller Tag in Neu und Alt Delhi

Mein Tuc Tuc Fahrer wartet vor dem World Trade Center. Ich habe viel Glück, dass er mich bei meinem Spaziergang vor dem Hotel entdeckt hat und ich in seinen „little helicopter“ eingestiegen bin. Denn einen besseren Tuc Tuc Fahrer kann man in Delhi nicht bekommen. Er spricht Englisch. Das ist schon mal sehr selten. Er hat auch was zu erzählen, von sich und seiner Familie: Eine Frau und zwei Buben hat er, auf die er natürlich sehr stolz ist. Beide sollen mal studieren. Er weiß aber auch in der Politik Bescheid: Your Chancler ist Mrs Merkel! Da bin ich baff. Nicht einmal ein Amerikaner weiß, wie unsere Kanzelerin heißt. Das weiß aber mein indischer Tuc Tuc Fahrer. Und dann beginnt er, mir von den indischen Parlamentswahlen zu berichten, die schon seit ein paar Wochen stattfinden. Nächstes Wochenende ist die Wahl dann in Delhi angekommen, dann wird hier gewählt, erzählt er. Wählen dauert in Indien eben lange – zu groß und unterschiedlich ist das Land: Es leben weit über eine Milliarde Menschen in diesem großen Land, die über 100 unterschiedliche Sprachen sprechen. Das macht die ganze Sache schon mal kompliziert, da wählt es sich eben nicht so einfach, wie in Deutschland. Deshalb wandert die Parlamentswahl von einem Bundesstaat zum nächsten, bis die Wahl nach Wochen zum Schluss in Delhi ankommt. Nächste Woche also wird man wissen, ob Ghandis Nachfolgepartei wieder gewählt worden ist.

Mein Tuc Tuc Fahrer kennt sich aus. Wir unterhalten uns prima. Er fragt viel: Ob ich Familie habe? Ob sich die Europäer vertragen? Und was ich von Pakistan halte? Zu dieser Frage muss man allerdings wissen, dass sich Pakistani und Inder nicht sonderlich mögen und immer wieder versuchen, verbalen Krieg zu führen. Zumindest drohen sie damit alle paar Monate. Das kann einen Europäer schon erschrecken, denn beide Nationen sollen ja Atombomben haben. Mich erschreckt dies nicht, denn ich bin Drohungen aus Korea mittlerweile gewohnt, wo ich ja öfters bin.

Mein Tuc Tuc Fahrer redet aber nicht nur gute Sachen, sondern fährt mich auch durch Neu Delhi und wird zu meinem Fremdenführer. Zeige mir die Stadt, habe ich ihn gebeten. Er zeigt mir zuerst das Verteidigungsministerium, ein herrschaftlicher Kolonialbau auf einer Anhöhe am Ende des Boulevards zum Gate of India. Von dort hat man einen besten Überblick auf die Großzügigkeit Neu Delhis – ja auf den fast verschwenderischen Stadtbaustil der damaligen britischen Kronkolonie. Mein Tuc Tuc Fahrer darf eigentlich nicht so nah an das Verteidigungsministerium heranfahren, er tut es aber trotzdem und lässt mich dort aus dem Tuc Tuc heraus springen, so dass ich ein paar Fotos und einen kleinen Spaziergang machen kann. Ich bin dort ganz allein, es ist kein Inder und auch ein Tourist zu sehen. Nur ein paar Wachsoldaten, die mich verscheuchen wollen.

Alle 10 Minuten kommt mein Tuc Tuc Fahrer wieder vorbei, doch erst beim dritten Mal springe ich wieder auf: Es geht jetzt nonstop zum Gate of India. Auch dort machen wir eine Pause. Ich spaziere um das Gate und durch den Park, wo an diesem Wochenende ganz viele Inder ihr Picknick feiern. Es gibt Straßenverkäufer, fahrbare Buden und überall ist etwas los. Es sind aber eher die Inder der höheren Kasten, die sich am Gate of India in Neu Delhi aufhalten. Man könnte sagen, es ist die gut-bürgerliche Oberschicht (wenn eine solche Übersetzung erlaubt ist). Die unteren Kasten, die Unterschicht also, die wohnt in Alt Delhi. Dort will ich unbedingt hin. Mein Tuc Tuc Fahrer fährt mich über kleinere Umwege zum Ziel – Umwege deshalb, damit ich noch den ein oder andere sehenswerte Strasse sehe, oder eine Park, oder ein interessantes Gebäude in Neu Delhi. Er ist mein Fremdenführer durch Neu Delhi geworden.

Wir sind in Alt Delhi angekommen: dort, wo die Strassen nicht mehr so breit sind, wo die Häuser nicht mehr herrschaftlich sind, wo es von Menschen nur so wimmelt, wo es schmale Gassen gibt. Mein Tuc Tuc Fahrer macht sich deshalb Sorgen um mich: Ich möchte mich ins Getümmel werfen, ich möchte per Rickscha weiterfahren, ich möchte zu Fuß durch schmale Gassen gehen – ich möchte Alt Delhi erleben, riechen und spüren. Sehr gefährlich, meint mein Tuc Tuc Fahrer, zu gefährlich. Ich solle aufpassen und sehr vorsichtig sein. Ich solle vor allem in keine kleinen Gassen gehen, da finde ich nicht mehr heraus aus dem Labyrinth. Er will auf mich warten, gerne drei Stunden oder länger. Ich sage ihm aber, dass ich gar nicht weiß, wo in drei Stunden bin – vielleicht hier, vielleicht woanders, vielleicht am Grabe Mahatma Gandhis. Er solle sich keine Sorgen machen um mich, und zum Hotel finde ich schon wieder zurück, denn schließlich habe ich ja die Adresse mit indischen Zeichen. Ich bezahle ihn für seine Dienste. 120 Rupien hätte ich zahlen sollen (so hat es meine Reiseleiterin mir aufgetragen), 700 Rupien zahle ich ihm. Und ich empfinde es als angemessen, denn er ist ein außergewöhnlicher Tuc Tuc Fahrer. Er ist gebildet. Er ist ein Fremdenführer, der sich für die Wünsche des Gastes interessiert. Und ihm gönne ich das Geld wirklich, so dass seine beiden Söhne mal studieren können. Die 700 Rupien würden zumindest für beide schon mal reichen, einen oder zwei Monate zusammen auf dem Campus im Studentenwohnheim wohnen zu können.

Da trennen sich nun unsere Wege. Ich gehe ins Getümmel, mein Tuc Tuc Fahrer schaut mir hinterher. Ich bin weg, und ich sehe ihn nicht mehr, als ich mich nochmals umdrehe. Ich spüre nur, dass ich diesen Tuc Tuc Fahrer lieb gewonnen hatte an diesem Vormittag. Er hat es geschafft, dass er mir binnen weniger Stunden ans Herz gewachsen ist. Noch heute denke ich an ihn zurück. Es war ein Glück für mich, dass er mich beim Spaziergang entdeckt hatte und ich in sein Tuc Tuc gestiegen bin. Einen besseren Vormittag in Delhi kann man nicht erleben.

Ich mache nun alles, wovor mich meine Reiseleiterin und mein Tuc Tuc Fahrer gewarnt haben. Ich nehme mir eine Rickscha und zeige dem Fahrer mit der Hand meine Wunschrichtung: dort hin also, ohne zu wissen, wo ich lande. Er radelt mich durch die engen Strassen. An manchen Wegverzweigungen muss ich mich entscheiden, wo hin ich nun will. Der Rickscha Fahrer schaut mich dann fragend an. Ich entscheide mich immer für den Weg, der enger ist, wo es immer mehr urtümlicher wird, wo man keinen Westeuropäer mehr sieht. Irgendwann wird es mir aber zu eng, und ich zeige dem Fahrer, dass er jetzt wieder zurückradeln solle, wo wir gerade hergekommen sind. Er strampelt sich ab, er schwitzt, er tut mir irgendwo leid, aber es ist sein Job. Wir landen dann genau dort, wo mich mein Tuc Tuc Fahrer abgesetzt hatte. Aber er ist nicht mehr da. Ich merke in diesem Moment, dass mir mein Tuc Tuc Fahrer wirklich ans Herz gewachsen ist.

Mein nächstes Ziel: Blick in keine Gassen, man würde angeberisch sagen, Blick hinter die Kulissen. Ich erkunde also zu Fuß kleine Gassen, in der nicht ein mal eine Rickscha passt, in den Hosen- und Westentaschen mehr als 40.000 Rupien, womit ich ein bestes Überfallopfer wäre, aber niemand überfällt mich. Es sind kleine, ja kleinste Gassen – manchmal nur einen Meter breit. Fotos mit meinem IPhone mache ich hier nicht, das traue ich mich nicht mehr, denn ich bin hier wirklich der Fremde in einer ganz anderen fremden Kultur. Aber es reizt mich ungemein, die Gassen und das Leben dort zu erkunden. Viele Inder schauen mich streng an, als ob ich ein Eindringling sei. Ja, ich bin es! Auch kleine Kinder sind nicht begeistert, dass ich hier so durch die Gassen gehe. Man kreischt, man schreit, man redet, man hat mich bemerkt – viele Kinder laufen davon. Ich werde nicht angebettelt, sondern eher mit Abstand beobachtet. Ich bin ein Fremder! Ein Fremder, nicht einmal einen Kilometer entfernt vom Fort aus Alt Delhi, dass eine der großen Touristenattraktionen ist. Ich bin fremd hier in den Gassen – und beginne mich auch unwohl zu fühlen. Ich habe sonderbarerweise überhaupt keine Angst, dass ich überfallen werden könnte, weil ich doch über 40.000 Rupien in der Hosen- und Westentasche habe. Nein, davor habe ich keine Angst. Ich fühle nur, dass ich gerade dabei bin, in eine soziale Kultur einzudringen, für die ich keine Berechtigung habe.

Bald finde ich in einer Gasse einen kleinen Laden, vielleicht 4 Quadratmeter groß. Ich sehe, dass es dort Cola gibt. Ich frage, wie viel sie kostet. Die Antwort bekomme ich auf dem Taschenrechner: 10 steht da, also 10 Rupien. Der Ladenbesitzer bittet mich in seinen kleinen Laden. Ich setzte mich auf eine Kiste und trinke die Cola. Ich lächle, der Ladenbesitzer lächelt auch. Auch Kinder kommen und lächeln jetzt. Wir grinsen. Wir geben uns Handzeichen. Alles ist irgendwie interessant. Ich für die Kinder, die Kinder für mich. Und er Ladenbesitzer. Wir reden nicht, denn wir sprechen ja unterschiedliche Sprachen. Wir unterhalten und über die Blicke, über Gestik und Mimik. Plötzlich fühle ich mich in der Gasse wieder wohl.

Nach dieser Cola entscheide ich, hier nicht weiter in das Leben von Alt Delhi einzudringen. Ich besuche an diesem Nachmittag noch die Grabstätte Gandhis, schaue mir von außen das rote Fort an und gehe auch in die Moschee – also die bekannten Stellen Alt Delhis. Als ich zurück in meinem Hotel in Neu Delhi bin, denke ich mir: Andreas, du hast gerade einen fantastischen Erlebnistag gehabt, so intensiv, wie selten. Im Hotel abends speise ich dann komfortabel und nobel Chicken Curry, und das schmeckt!
 
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Hier ein paar Bilder aus Delhi: Zuerst das Gate of India, dann ein Bild von der Fahrt von Neu nach Alt Delhi, dann zwei Fotos aus den Strassen Alt Delhis und zum Schluss ein Bild vom Roten Fort.
 

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Und hier noch ein paar Schnappschüsse: Das Gate of India in Neu Delhi bei Nacht, ein herrschaftliches Grab (!) ebenfalls in Neu Delhi, dann eine Moschee in Alt Delhi und zum Schluss zwei Bilder eben aus Neu Dehli, die aber wie aus Alt Delhi wirken. Neu-Delhi? Alt-Dehli? Alles klar?!? *smile*
 

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Flug von Delhi nach Varanasi

Jetairways fliegt mich von Delhi nach Varanasi. Das Flugerlebnis beginnt im Inlandsterminal des Indira Gandhi Flughafens. Mein Betreuer darf nicht ins Terminal, da sind nur Fluggäste zugelassen. Offiziell wegen der Sicherheit, inoffiziell wegen enormer Platzprobleme. Es gibt gerade mal 10 Gates für alle Domestic-Flüge - egal ob Jet Airways, Kingfisher oder Air India. In kurzen Taktabständen wird an jedem Gate ein Flug abgefertigt. Meines wird gerade mal 20 Minuten vor Abflug geöffnet, zwei Minuten vorher war noch eine Maschine nach Bangolore dran. Platz ist in diesem Terminal wirklich nicht: Es gibt im gerade mal einen Stand, wo man sich eine Cola kaufen kann. Sie kostet hier 60 Rupien, das ist das sechsfache wie in Altdehli. Ich kaufe mir eine, schimpfe über den Wucherpreis und warte darauf, dass uns ein Bus zu dem Flieger bringt, der nach Varanasi fliegt. Die Flugzeuge stehen in Delhi irgendwo auf dem Vorfeld, unseres sogar eine „Flughafenrundreise“ entfernt von dem sehr alten Terminalgebäude.

Ich sitze bei Jet Airways in der Economy Class und habe eine ganze Reihe für mich allein, obwohl der Flieger rappelvoll ist. Das ist mir auch bei allen anderen Flügen in Indien so ergangen. Ich nehme an, dass es an meinen Star Alliance Silver Status liegt. Da bekommt man offensichtlich Platz. Wir starten und ich schaue aus dem Fenster. Da ist nicht viel zu sehen auf diesem Flug, denn die Luft über dem Norden Indiens ist heute staubig. So schaut von oben alles goldbraun verschwommen aus. Rausschauen aus dem Fenster lohnt sich also nicht.

Besser sind da die freundlichen Stewardessen. Sie servieren auf diesem kurzen Flug sogar ein warmes Essen in der Economy – ein mittelscharfes indisches Gericht (was genau, weiß ich nicht mehr), doch es hat mir geschmeckt (das weiß ich noch, ich habe jedenfalls ein Foto davon gemacht). Der Service ist wirklich gut bei Jet Airways - auf den ersten Eindruck besser als bei vielen bekannten europäischen Airlines. Wir kommen auch pünktlich in Varanasi an. Was will man mehr. Für indische Verhältnisse ist dies fast eine Sensation – pünktlich anzukommen.

Dort sehe ich dann das kürzeste Gepäckausgabeband, das ich jemals in einem Ankunftsbereich gesehen habe: Das Band ist vielleicht 10 Meter lang. Vorne legt ein Inder den Koffer auf Band, hinten holt ein anderer Inder es wieder vom Band, denn meist hat keiner der Fluggäste so schnell seinen Koffer entdeckt. Ein Weile bleiben dann die Koffer am Ende des Bandes liegen, bis ein Inder sie wieder nach vorne bringt, um sie dort wieder auf das Band zu legen. Das System hatte schon seine eigene Logik.

Hier nun die Bilder: Zuerst vom Inlandsterminal mit seinen Gates in Neu Delhi, dann ein Bild von Vorfeldflugzeugen, dann ein Schnappschuss kurz nach dem Start, ein Bild vom Essen und zum Schluss der Schnappschuss vom Gepäckband in Varanasi.
 

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Lerne! Und Verbrenne!

Learn and burn: Studiere und verbrenne! Das ist der "Slogan" von Varanasi. So wird der Charakter dieser Stadt von vielen Indern kurz und knapp beschrieben. Und diese Beschreibung stimmt wörtlich. Das Wesentliche: Varanasi ist eine Millionenstadt, gut 800 Kilometer östlich von Delhi gelegen. Sie hat eine weltweit bekannte Universität, gerade die medizinische Fakultät genießt einen besten Ruf. Dort wird also studiert. Verbrennen tut man dann nicht auf dem Campus, sondern am Ganges - und zwar, wenn man an seinem Lebensende gestorben ist. Dann wird der Leichnam am Ufer des Ganges angezündet und später in diesen Fluss geworfen. Daher kommt es zu dem Spruch: Learn and burn, studiere und verbrenne.

Doch der Reihe nach: Am Flughafen von Varanasi erwartet mich ein sympathischer Chauffeur und eine dominante Dolmetscherin. Ja, das gibt es in Indien - es gibt dort sehr dominante Dolmetscherinnen! Die kommen aus einer höheren Kaste. Meine ist eine studierte Diplom-Biologin. Sie hat auch Deutsch gelernt. Mit zweitem verdient sie jetzt ihren Lohn. Es ist aber auch Zeitvertreib für sie. Sie ist gut verheiratet, und hat auch Kinder und wohnt nicht schlecht, sagt sie. Deutsch sprechen, meine Fragen zu übersetzten, die Antworten mir mitteilen – das ist ihr Job. Doch sie macht es anders. Sie gibt mir die Richtung vor, sie sagt mir, wo es lang geht, sie ist eben dominant: Auf den Weg ins Hotel habe ich mir eine alte Tempelanlage anzusehen, weil diese gerade auf den Weg liegt. Ich schaue mir die alte Ausgrabungsstätte an. Ich sehe ein paar Steine, die man vor Jahrzehnten - nein, vor über einem Jahrhundert - ausgegraben hat. Der Anblick ist ganz nett. Doch was haben diese ausgegrabenen Steine und Mauern zu bedeuten? Meine Fragen bleiben unbeantwortet, weil ich sie auch nicht gestellt habe. Denn ich habe dazu keine Chance, Fragen zu stellen: Meine „Domina“ geht voran, ich bin immer weit hinter ihr, denn ich versuche ein paar Fotos mit meinem IPhone zu machen von dieser Ausgrabungsstätte. Meine „Domina“ wartet nicht - sie hält nicht inne, sie stoppt nicht. Erst am Ausgang kann ich sie ernsthaft stoppen und eine Frage stellen. Doch mit dieser einzigen Frage komme ich von einem Dilemma in das nächste. Meine „Domina“ antwortet im Stile einer schlechten Fremdenführerin: nämlich wie ein Sprachautomat, der Jahrszahlen, Namen und Begriffe in kurzer Reihenfolge ausspuckt: „Buddah .... Sarnath ... 6tes Jahrhundert vor Christus ....Vishnu .... Erleuchtung ... 2tes Jahrhundert nach Christus ... Shiva ... 1568 ... 1896 .... und natürlich die Briten!“ Sie hält nicht inne und redet wie auf einer Schallplatte – ohne Komma, Punkt und Strich. Es wirkt, wir auswendig gelernt. Da stört jede individuelle Frage nach dem warum, wann und wie? Ich entscheide deshalb, sie nicht mehr zu fragen – denn sonst werde ich erschlagen von den Jahreszahlen, Namen, Religionen und noch viel mehr (mit meiner "Domina" musste ich mich die nächsten zwei Tage in Varanasi oft "arrangieren").

Am späten Nachmittag will ich zum Ganges, um mir die Verbrennungen anzusehen. Learn and burn! Das zweite interessiert mich eben zuerst, das ist auch aussergewöhnlicher. Wir fahren zum Ganges und kommen mit dem Auto aber nicht sehr weit, denn hier in Varanasi ist viel mehr los als in Alt-Dehli. Es ist sehr laut und es ist ein dichtes Gedrängel: Da liegen überall Kühe rum. Sie versperren unserem Wagen den Weg. Schön: Wir müssen zu Fuß weiterlaufen. Ich sehe dabei eine Kuh, die mitten in einem Modegeschäft am Tresen steht und sich für bunte Stoffe interessiert. Ja, das ist keine Phantasie, das ist wirklich so! Die Kuh darf das. Genau genommen ist der Besitzer des Geschäftes über diesen Kuh-Umstand sogar sehr froh, denn es ist ja schon eine Ehre, dass eine Kuh gerade sein Geschäft besucht. Das ist in Indien sehr geschäftsförderlich, das bringt ihm viele Kunden. Dazu muss man aber wissen, dass Kühe in Indien heilig sind. Sie dürfen tun und machen, was sie wollen. Sie haben auf der Strasse immer „Vorfahrt!“ Sie werden verehrt. Sie bekommen sogar ihr Essen auf einem Tablett serviert. Oder sie spazieren über Bahnsteige. Davon aber später.

Die heiligen Kühe sind das eine. Die Menschenmassen sind das andere. Varanasi ist eine heilige Stadt, ja die heiligste im indischen Hinduismus, genau so heilig wie Rom für die Katholiken ist. In Varanasi „lebt“ Gott Shiva – Shiva ist für die Hindus der Herr der ganzen Welt. Kein Wunder also, dass in Varanasi sehr viele Pilger sind. Sie alle drängeln Richtung Ganges, denn es ist das Ziel eines jeden, zumindest einmal im Leben in diesem Fluss gebadet zu haben. Hat man dort gebadet, ist man aller Sünden los.

Je näher wir dem Ganges kommen, desto intensiver werden die Eindrücke: Ich sehe Einbeinige, Handlose, Einarmige und sonstige Krüppel – ja, man muss aufpassen, dass man nicht über einen Krüppel stolpert, da manche ohne Beine fast nackt auf der Strasse sitzen, dabei ihre Hände aufhalten und betteln. Ich sehe dieses Leid. Doch soll ich keine einzige Rupie geben, hat man mir gesagt. Ich soll nicht auf die Bettelei eingehen und alles ignorieren. Das fällt schon schwer. Ich muss über dieses Leid hinwegsehen. Denn es sei hausgemacht. Berufsmäßige Bettelei, sagt man mir. Dafür würden sogar Beine amputiert, Hände abgehackt oder sonstige Grausamkeiten begangen. Es scheint zu stimmen: Nicht ein Inder reagiert auf die Bettler, es sind fast nur Touristen, die Geld spenden.

Es sind Anblicke, die schon in Knochen und Mark gehen – sogar mir, der schon viel auf dieser Welt gesehen hat. Doch ich kann diese Anblicke ganz gut verarbeiten, was vermutlich an meinem Alter und an meiner Erfahrung liegt. Doch für einen Besuch in Varanasi sollte man also eine gewisse Reife haben. Als 25 jähriger zu meiner Backpackerszeit hätte ich vermutlich diese Reife noch nicht gehabt und hätte diesen Anblick nicht gut verarbeitet. Heute kann ich solche Erlebnisse mit mehr Distanz betrachten, denn weiß ich: es gibt andere Kulturen, andere Religionen und andere Lebensumstände, die man nicht mit westlichen Blickwinkel betrachten darf. Was uns Leid tut, muss einem Inder noch lange nicht Leid tun. Und schon gleich gar keinem Hindu, egal aus welcher Kaste er kommt (Kasten sind so etwas wie eine hierarchische Stufe, in der man hineingeboren wird – den obere Kasten geht es gut, den unteren Kasten eher nicht und die Kastenlosen haben gar nichts, also auch keine Rechte). Man müsste also zuerst Soziokultur Indiens und den Hinduismus genauer betrachten, um hier zu einer neutralen Einschätzung zu kommen.

Die Bettler sind das eine. Die Leprakranken und Todgeweihten sind das andere. Sie kommen nach Varanasi, um hier zu sterben. Es sind meist kastenlosen Inder – also Menschen, die überhaupt keine Rechte haben, die aus der besitzlosen Unterst-Schicht kommen. Für sie gilt: Wenn man in Varanasi stirbt, dann ist man erlöst. Dann kommt man aus dem Kreislauf der ewigen Wiedergeburt als Kastenloser heraus. Viele Inder sterben deshalb in Varanasi sehr gerne, das ist für viele Hindu ein Lebensziel. Diese kasten- und besitzlosen Inder werden nach ihrem Tod mit einem Stein beschwert und im Ganges versenkt. Die anderen Toten werden am Ufer des Ganges verbrannt und deren Überreste dann in den Ganges geworfen. Und gleich nebenan waschen sich andere Inder die ihre Sünden ab – im gleichen Wasser des Ganges. Varanasi und der Ganges – das sind eben heilige Orte. Für uns Westeuropäer erst einmal schwer zu verstehen.

Ich lasse mich auf einem Boot an den Ufertreppen Varanasis vorbeirudern. Ich sehe Frauen, die dort ihre Wäsche waschen. Ich sehe Inder, die sich dort baden, um ihr Gewissen rein zu waschen. Ich sehe, wie in Tuch eingewickelte Leichen mit einem Stein beschwert in den Ganges geworfen werden. Ich sehe viele Totenfeuer auf den Treppen. Überall auf den Stufen sind Holzscheide. Dort aufgebart sind Leichname. Manchmal stehen Kühe daneben, meist aber "nur" die Angehörigen. Dann wird der Holzscheid angezündet: es verbrennt der in Tüchern eingewickelte Leichnam. Die Flammen werden ein paar Meter hoch – und nachdem der Leichnam verbrannt ist, werden die sterblichen Überreste in den Ganges geworfen.

Auf mich macht das alles einen großen Eindruck. Es kommt ein anderes Ruderboot vorbei. Im Boot sitzen zwei kleine Mädels. Sie bieten mir schwimmende Totenlichter an. Ich nehme zwei. Die Mädels zünden beide Kerzen an, und ich darf sie dann zu Wasser lassen. Da schwimmen nun die beiden Kerzen im Ganges, zwei Kerzen für meine Liebsten, die etwas zu früh in den Himmel umziehen mussten. Ich schaue den beiden Lichtern noch sehr lange nach. Sie treiben auf dem Ganges und leuchten, bis ich sie irgendwann nicht mehr sehe.
 
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Und hier die Fotos zum Bericht: Zuerst das Geschäft mit der Kuh. Dann zwei Bilder von den Treppen zum Ganges, wo entweder die Sünden oder die Wäsche gewaschen werden. Dann ein Bild von den Verbrennungen (darf man so etwas aufnehmen?). Und zum Schluss ein Bild von einem der indischen Kinder, die mir meine Lichter angezündet hatten.
 

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Der Ganges und die Menschen dort haben auf mich einen großen Eindruck hinterlassen, so dass ich am nächsten Abend noch mal da war – auch, um der empfohlenen Organisation meine Spende überreichen: eine Organisation, die sich um die wirklich Armen kümmert - um Hungernde, um Witwen mit Kindern und um Leprakranke. 10.000 Rupien überreiche ich einem Priester. Doch bei der Geldübergabe habe ich das Gefühl, dass er enttäuscht ist: er scheint mit mehr gerechnet zu haben. Doch welcher Spendenbetrag ist in Varanasi angemessen, und welcher Betrag ist unangemessen? Ich weiß es nicht! Der Priester stellt mir eine „Spendenquittung“ aus, gibt mir seinen „Hindu-Segen“ auf die Stirn, steckt das Geld in seine Hosentasche (ob die 10.000 Rupien tatsächlich bei den Armen ankommen?) und bietet mir einen Platz auf einem Balkon an, von dem ich der abendlichen Gebetszermonie am Ganges beiwohnen darf. Ich sehe 5 Priester und tausende Inder, die entweder auf den Treppen am Ganges stehen oder in großen Booten zur Zeremonie herbei gerudert sind. Ich höre die langen Gebete, spirituellen Gesänge und das mystische Glockengeläut. Ich rieche auch den Rauch vieler Räucherkerzen. Vor allem aber sehe ich, was hoffentlich mit meiner Spende passieren wird. Damit wird für die Armen gekocht! Sie bekommen Reis und etwas Curry-Fleisch auf Metall-Tellern serviert. Sie speisen auf den Treppen zum Ganges – und Kühe speisen mit. Auch sie bekommen ihre Teller: Reis und Curry! Es schmeckt dem Mensch und der Kuh. Diese Formulierung mag jetzt ziemlich komisch klingen, aber es trifft die Sache am besten: Der arme Hindu ist froh, dass er der heiligen Kuh etwas geben konnte, und die Kuh ist froh, dass sie diesmal kein Zeitungspapier fressen musste (was sie normalerweise in Varanasi tut, wenn nicht gerade besseres im Angebot ist).

Doch Kühe sind nicht dankbar! Die einzige wirklich kritische Situation auf der gesamten Asienreise habe ich einer Kuh zu verdanken. In einer Gasse will ich eine Kuh fotografieren, die gerade sehr fotogen daherkommt. Ich mache auch den Schnappschuss, doch dann geht diese Kuh zum Angriff über: Ich drücke mich an eine Hauswand, mache meinen Bauch klein und halte den Atem an. Auch viele Inder und Kinder suchen Flucht in Eingängen und Nischen. Diese Kuh ist aggressiv und geht zielstrebig voran - zum Glück an mir vorbei. Doch alle Menschen hinter mir ist die Gefahr nicht gebannt. Ich sehe in deren Augen, sie beobachten die Kuh. Männer versuchen Kinden hinter sich zu bringen. Und ich versuche, zu entwischen. Zum Glück ist keinem etwas passiert. Doch da habe ich wirklich etwas angerichtet. Mich strafen Blicke.

Hier das Foto der Kuh. Dann zwei Bilder von den Pilgern auf den Booten und von der Armenspeisung, dann ein Stimmungsbild vom Ganges und ein Bild aus dem Strassenverkehr von Varanasi, wo man am schnellsten mit einer Rikscha vorankommt.
 

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Danke Donnergeräusch, Danke für die Einblicke in ein fremdes Land und die fremde Kultur (vermutlich für die meisten hier). Und irgendwie macht mich das auch nachdenklich...während wir hier (klar, es gibt auch hier Ausnahmen) genug zu essen haben müssen woanders auf der Welt die Menschen hungern oder kommen grad mal durch Spenden, Armenspeisung und wie man das sonst noch nennt zu einer täglichen Mahlzeit. Wenn wir Hunger haben dann gehen wir in ein Geschäft, Restaurant oder Fast-Food Burgerladen und kaufen uns was da es für uns eben selbstverständlich ist. Und wenn man den Ranzen voll hat, der Teller aber noch nicht leer ist, dann lässt man den Rest eben zurückgehen wo er dann in einer Tonne als Abfall landet. Ich glaube das hier niemand sagen kann das habe er/sie noch nie gemacht. :rolleyes:
 
Wir im Westen leiden auf einem sehr hohem Niveau - und ich als First Class Reisender vermutlich auf dem höchsten Niveau, welches man sich vorstellen kann.

Es stimmt schon, dass es auch in Indien noch Hunger gibt - auch in Varanasi: Doch das heisst nicht, dass die meisten Pilger in Varanasi leiden, obwohl sie nach unserem Verständnis arm sind. Dort sind die Pilger an ihrem heiligsten Ort. Ein schöneres Erlebnis gibt es für keinen Hindu. Es ist der Höhepunkt ihres Lebens. Das ist sicherlich schwer zu verstehen, wenn man es aus der westlichen Kulturbrille betrachtet: Passen Armenspeisungen auf dem Boden einer öffentlichen Treppe in Nachbarschaft mit einer Kuh und religiöse Glücksgefühle zusammen? Passt es, dass es für einen Leprakranken der größte Wunsch wäre, hier zu sterben? Ja, das passt in den meisten Fällen. Das ist Lebensziel vieler Hindu.

Es gibt aber in Varanasi auch die sehr nachdenklichen Fälle, wo Eltern ihre Kinder verkaufen, um dadurch zu überleben. Es gibt aber auch Kinder, die durch den Tod der Eltern hier zu Waisen geworden sind. Da muss geholfen werden - egal aus welchem Kulturkreis man kommt, egal, wie man die soziokulturellen Umstände betrachtet. Da würde ich gerne helfen.

Ich habe auch Dörfer besucht, wo man sich auf den ersten Blick denkt: "die Menschen hier sind sehr arm". Doch man sollte nicht zwanghaft helfen. Sonst geht eine funktionierende Soziokultur kaputt. Ich spende nie Geld, verteile nie Dollarnoten. Das ist fatal. Doch ich habe immer viele Kugelschreiber dabei. Kugelschreiber als Geschenk sind angemessen. Ich verteile die Kugelschreiber an die Kinder und zeige ihnen erst einmal, wie so ein Kugelschreiber funktioniert: oben draufdrücken, dann kommt die Mine raus, und dann kann man etwas malen. Ein Smilie zum Beispiel. Das male ich einem Kind notfalls auf den Arm, wenn kein Papier da ist. Das macht die Kinder wirklich glücklich, sie lachen alle und versuchen, das Smilie nachzumalen. Smilies und Kugelschreiber verbinden Kulturen. Man mag mir das kaum glauben: Damit macht man wirklich einen Freude. Vor allem aber: Kugelschreiber sind nicht teuer. Deshalb kann ich jedem Kind einen Kugelschreiber geben, es gibt keinen Neid, denn manchmal ist man ja sofort von 10 bis 20 Kindern umzingelt und alle wollen genau das haben, was das Nachbarkind bekommen hat. Ich habe also immer viele Kugelschreiber dabei, wenn ich in Schwellen- und Entwicklungsländer reise. Und wenn die Schreiberlinge ausgehen, dann hole ich mir an meiner Hotelrezeption den Nachschub. Klappt meisten gut. Und man mag es kaum glauben: Die Eltern der Kinder freuen sich auch über Kugelschreiber. Denn Kugelschreiber sind in Indien gar nicht so einfach zu bekommen (in Dörfern schon gleich gar nicht), aber sie sind sehr nützlich!

Auf den zweiten Blick gibt es jedenfalls noch eine andere Betrachtungsweise: Ich meine, in diesen Dörfern sehr viele glücklich spielende Kinder und intakte Familien gesehen und erlebt zu haben, in denen es noch einen wirklichen Zusammenhalt gibt. Sie haben zwar kein Radio, keinen Fernseher und auch kein Moped, aber sie haben ein Fahrrad und eine Kuh oder zwei Ziegen, auf die sie besonders stolz sind. Und nach meinen Besuch haben alle auch noch einen Kugelschreiber, was im Dorf noch lange für Gesprächsstoff sorgen wird. Oft hatte ich das Gefühl, dass diese Kinder und die Familien innerlich ausgeglichener und glücklicher sind als viele Kids und Familien im reichen Deutschland - auch wenn es in Indien weniger zu essen gibt. Aber das sind meine subjektiven Eindrücke.
 
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Am Ende wird es richtig schweinisch!

Heute schreibe ich über viele unterschiedliche Eindrücke: Über eine Universität, über eine Hochzeit, über meinen Koffer und am Schluss über knallharte Porno-Hardcores mitten in Indien. Man könnte sagen: Der Höhepunkt der heutigen Geschichte kommt am Schluss, wie beim guten Sex.

Aber lasst mich erst einmal gebildet anfangen: Es geht um die Universität in Varanasi. Sie hat im asiatischen Raum ein hohes Ansehen und findet weltweit im medizinischen Bereich beste Anerkennung. Es ist eine Ehre, dort studieren zu dürfen. Sie ist eine der indischen Eliteuniversitäten. Ich wollte dort das indische universitäre Lernsystem zu studieren: Was macht den Unterschied zu deutschen Unis aus? Wie wird hier studiert und gelernt? Wo liegen die Vorteile, wo die Nachteile? Das waren also meine einfachen Fragen.

Nach meinen Fotos aus Varanasi stellt man sich bestimmt vor, dass die Universität dort aus sehr alten Gemäuern besteht, dass die Lehrinstitute vielleicht dicht gedrängt in die Stadt gebaut sind, dass das Leben in dieser Universität genauso hektisch ist wie in der Altstadt und dass es vielleicht ärmlich zugeht an der Uni, was die Forschungsmittel angeht. Doch weit gefehlt: Die Gemäuer sind zwar alt, aber wunderschön. Britische Kolonialarchitektur! Das gesamte Universitätsgelände ist weitläufig: Jedes Institutsgebäude hat seinen eigenen Garten, alle Strassen im Unigelände sind auch für deutsche Verhältnisse sehr breit angelegt, es gibt auch zahlreiche Sportplätze und Parks mit vielen Bäumen, unter deren Schatten es sich hervorragend studieren lässt. Auf diesem Campus befinden sich auch die Studentenwohnheime. Es sind meist zweistöckige Gebäude, die ebenfalls Gärten haben mit ebenfalls vielen „Studierbäumen“, unter denen es sich dann eben lernen lässt. 500 Rupien kostet so ein (Doppel)-Zimmer im Monat. Das sind umgerechnet gerade mal 7 Euro. Traumhaft.

Genauso traumhaft ist das zweite Erlebnis. Dieses steht etwas im Gegensatz zu den religiösen Zeremonien und Verbrennungen am Ganges. Es ist eine indische Hochzeit, eine Eheschließungen in der oberen Kaste. Da geht es mit Paucken und Trompeten zu: Die Hochzeitsgesellschaft wandert durch die Stadt, ein paar Trommler und Tropetenspieler machen ordentlich Lärm, die Hochzeitsgesellschaft tanzt dazu und mittendrin im Trubel sitzt das Brautpaar hoch zu Ross auf dem Weg zum Hochzeitschmauß. Dieses grenzt an Völlerei. Es ist ein echtes Fest. Hochzeiten werden also in Indien wirklich gefeiert – zumindest in den oberen Kasten.

Jetzt aber heisst es Abschied nehmen aus Varanasi: Nach den eindrucksvollen Tagen mit Hochzeit und Todeszeremonien fliege ich nach Khajuraho, eine Stadt rund 250 Kilometer südöstlich von Varanasi. Diese kurze Strecke kann man doch sicher mit dem Auto zurücklegen, denkt man. Doch eine Autofahrt wird nicht empfohlen, denn die Fahrt auf sehr holprigen Strassen würde weit mehr als 8 Stunden dauern, ohne irgendwo Rast nach kultivierem Standard machen zu können: es gibt auf den Weg nach Khajuraho erstens keine Cola und zweitens kein einziges Klo! Deshalb fliegt man besser diese kurze Strecke. Dabei muss man mit üblichen Verspätungen rechnen, doch nach einer Wartezeit von zwei oder drei Stunden dauert dann der Flug nur 25 Minuten. Das entschädigt für die lange Verspätung. Jet Airways macht trotz dieser kurzen Flugzeit sogar in der Economy Class noch einen vollen Service: Ich bekomme ein Sandwich und ein Getränk.

Nach 25 Minuten landet die Maschine mit allen Passagieren und Koffern in Khajuraho. Die Koffer sind schnell ausgeladen. Auch meiner. Ich habe ja einen hochmodernen Carbon-Koffer. Er ist unkaputtbar, sagt die Werbung. Das darf man auch erwarten: fast 300 Euro hat das Teil gekostet. Doch heute „humpelt“ mein Koffer, als ich ihn am Gepäckband abhole und ihn hinter mir herziehen will. Mein Koffer scheint krank zu sein. Ich schaue ihn mir deshalb an: Er ist nicht nur etwas krank, er ist schwer krank. Es schaut nicht gut aus um ihn. Da sehe ich erstens ein faustgroßes Loch an der linken Unterflanke, dort wo die einer der vier Laufrollen ist. All meine schmutzigen Socken könnten aus dem Loch herausfallen. Zum Glück tun sie es nicht. Dann sehe ich ein Rad, das sich so umgedreht hat, dass die Rolle ins Kofferinnere zeigt. Das ist nicht gut. Das ganze schaut also aus wie ein böser Crash - ähnlich wie bei einem frontalen Autounfall, wo die Wucht des Aufpralls das linke Vorderrad in den Fahrgastraum geschoben hat, dazu ein Loch in der Karoserie ist und sich die ganze Fahrgastzelle verzogen hat, so dass man die Türen nicht mehr öffnen kann. Genauso ist es: Mein Koffer lässt sich auch nicht mehr öffnen.

So einen Schaden muss man melden. Ich tue das auch. Ich werde in das Büro von Jet Airways in Khajuraho gebeten. Dort sitzt der Stationsleiter. Und seine Assistent. Der Stationsleiter holt noch denjenigen dazu, der auf dem Vorfeld den Koffer ausgeladen hat. Der sagt: Das ist in Varanasi passiert, nicht hier. Dann ruft der Stationsleiter per Handy die örtlich Customer Relations Managerin von Jet Airways herbei. Sie kommt. Kaputte Koffer scheinen eine Sensation zu sein, immer mehr Leute kommen ins kleine Büro, einer sogar mit einem Hammer, damit man meinen Koffer zuerst öffnen und dann wieder in Form hämmern kann. Das Öffnen gelingt, das Zurechthämmern nicht, denn das Material ist ja Carbon, wie später die Inder merken. Der Hammer war keine gute Idee.

Alle interessieren sich für meinen Koffer. Doch ich mache mir Sorgen, dass mein Abholer wegfährt, weil ich nicht aus dem Flughafengebäude herauskomme und ich bald ganz allein auf mich gestellt bin. Kann man denn erst einmal meinen Abholer verständigen? Ja, er ist schon verständigt, sagt der Stationsleiter und öffnet das Fenster: Dort steht mein Abholer und lächelt mich von außen an. Er darf nicht ins Gebäude, aber er darf am Fenster stehen bleiben und von aussen reinschauen. Das offene Fenster bleibt meine einzige Verbindung zu meinem Abholer. Auch er macht sich sorgen, dass alles klappt. Ich finde die ganze Situation sehr interessant. Ich habe so etwas noch nie erlebt.

Der Stationsleiter diagnostiziert: Der Koffer ist kaputt und nicht mehr zu retten. Die Zurechthämmerei hat meinem Carbonkoffer den Rest gegeben. Das Loch ist nun richtig gross! Er telefoniert mit Delhi. Dann holt er ein IATA-Formular heraus, wo er die Schäden einträgt. Wie viele Dollar hat der Koffer gekostet? 500 US-Dollar antworte ich. 500 Dollar? Mich schauen sieben ungläubige Inder an. 500 Dollar? Ja, sage ich – geschätzt 500 Dollar, also 300 Euro, was von mir natürlich schlampig im Kopf umgerechnet ist. Der Stationsleiter trägt 500 Dollar in das IATA-Formular ein. Er telefoniert wieder mit Delhi. Delhi sagt: 500 Dollar ist viel. Ich bekomme einen Ersatzkoffer, aber nicht hier in Khajuraho, denn dort gibt es ja nicht ein einziges Geschäft, wo man einen Koffer kaufen könnte. Erst in Jaipur in einer Woche gäbe es ein Geschäft, wo Jet Airways mir Ersatz stellen könnte. Ob ich mit dem kaputten Koffer solange noch leben könnte, fragt man mich. Ich sage ja. Was anderes bleibt mir ja auch nicht übrig.

Ein Chauffeur bringt mich und meinen Koffer ins Hotel. Es ist das Taj Chandela. Es hat vielleicht vier Sterne. Es liegt ruhig, aber Khajuraho ist sowieso eine ruhige Stadt. Sie hat nur 10.000 Einwohner, soweit ich mich erinnere. Nach den lauten und hektischen Tagen in Varanasi genieße ich aber die Ruhe und mein großes Zimmer mit direktem Zugang in den Hotelgarten und seinem Pool. Dort schwimme ich. Der Pool gehört mir alleine. Es ist alles fast wie im Urlaub. Auch im Restaurant bin ich abends einzigster Gast. Ich werde traumhaft bedient, sogar der Koch schaut vorbei und sein Abendessen ist ein wahrer Schmaus (ich weiß leider nicht mehr, was ich gegessen habe, aber ich habe aber dieses Essen in bester Erinnerung). Dieses Hotel hat mir also gefallen und ich kann es weiterempfehlen.

Doch man kommt nicht nach Khajuraho, um in einem guten Hotel zu speisen, zu baden und ruhig zu schlafen. Man kommt hierher, wenn man sich für Sodomie, Kamasutra, Gruppensex, Anal oder Oralverkehr interessiert – also für alle lustvolle Schweinereien, die man sich nur so vorstellen kann. So direkt wie ich hier das gerade beschreibe würde es kein einziger Besucher zugeben - zumal die meisten Besucher Khajuraho schon älter sind und manche sogar einen Professorentitel tragen.

Doch insgeheim wollen alle älteren, gebildeten Besucher nur alle wissen: Wie war das vor 1.000 Jahren mit dem Sex? Wie hat man es im 9. Jahrhundert hier in Indien getrieben? Die Antwort ist in Stein gehauen: Es war tabulos, ja tabuloser Sex! Viele Sauereien stehen heute unter Strafe, wenn man es nachmachen würde, was da so in Stein gehauen ist. Die Unesco hat das aber unter Weltkulturerbe gestellt: Es sind die Skulpturen der Tempelanlage von Chandella-Rajputen, die erst vor 100 Jahren entdeckt, jedoch vor über 1.000 Jahren in Stein gemeiselt wurden. Die Tempel bestehen aus vielen erotischen Skulpturen, die eigentlich Hardcore-Pornos sind: Wie treibt es sich mit einem Pferd? Damals ganz nett. Es war offensichtlich ganz normal! Die Skulpturen erzählen viel von Sex, Lust und Liebe, aber auch von anderen Lebensgewohnheiten und vom ganz normalen Alltag. Es gibt hier viele Details zu sehen, dass es mir nicht langweilig wird. Khajuraho hat gewiss einen Tempel, der einmalig ist. Einen interessanteren Tempel habe ich bisher noch nirgends auf der Welt gesehen.
 
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In der heutigen Welt am Sonntag ist übrigens ein grosser Bericht über den Tempel. Da gibt es mehr Fotos als hier, naja, da gibt es eine Fotocollage. Ich lade jetzt nur die schweinisch erotischen Skulpturen hoch. Entdeckt wurde der Tempel erst 1906 durch Zufall. Die Skulpturen waren komplett zugewachsen und noch dazu mit Moos befallen. Alles musste erst einmal schrittweise freigelegt werden: Und dann kamen die folgenden Hardcore-Pornos zum Vorschein. Viel Spaß beim Gucken!
 

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@ munich:

manch sehr konservativer Theologe würde tatsächlich so argumentieren: Einmal Lust gehabt, und schon ist Arm ab, und man ist arm dran. Auf diese Detailbetrachtung bin ich gar nicht gekommen. Schönes Argument von Dir. Danke.
 
Man hat mir gerade gesagt, dass ich doch noch ein paar Fotos von den Tempeln einstellen soll, damit man sich vorstellen kann, wo in einem Tempel solche lustvollen Schweinerein zu sehen sind. Also kommen hier drei Iphone-Bilder: Zuerst das Bild von einem der vielen Tempel, damit man sieht, wie ein solcher Tempel als Gesamtbauwerk aussieht. Davon gibt es in Khajuraho mehrere. Je näher man diese Tempel betrachtet, desto interessanter werden sie. Auf dem zweiten Bild sieht man schon, dass auf dem Tempel Alltagssituationen in Stein gemeißelt sind. Und auf dem dritten Bild sieht man die Alltagssituationen noch genauer. Da geht es schon um Sex. Ich finde so etwas beeindruckend!
 

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