ein toller Tag in Neu und Alt Delhi
Mein Tuc Tuc Fahrer wartet vor dem World Trade Center. Ich habe viel Glück, dass er mich bei meinem Spaziergang vor dem Hotel entdeckt hat und ich in seinen „little helicopter“ eingestiegen bin. Denn einen besseren Tuc Tuc Fahrer kann man in Delhi nicht bekommen. Er spricht Englisch. Das ist schon mal sehr selten. Er hat auch was zu erzählen, von sich und seiner Familie: Eine Frau und zwei Buben hat er, auf die er natürlich sehr stolz ist. Beide sollen mal studieren. Er weiß aber auch in der Politik Bescheid: Your Chancler ist Mrs Merkel! Da bin ich baff. Nicht einmal ein Amerikaner weiß, wie unsere Kanzelerin heißt. Das weiß aber mein indischer Tuc Tuc Fahrer. Und dann beginnt er, mir von den indischen Parlamentswahlen zu berichten, die schon seit ein paar Wochen stattfinden. Nächstes Wochenende ist die Wahl dann in Delhi angekommen, dann wird hier gewählt, erzählt er. Wählen dauert in Indien eben lange – zu groß und unterschiedlich ist das Land: Es leben weit über eine Milliarde Menschen in diesem großen Land, die über 100 unterschiedliche Sprachen sprechen. Das macht die ganze Sache schon mal kompliziert, da wählt es sich eben nicht so einfach, wie in Deutschland. Deshalb wandert die Parlamentswahl von einem Bundesstaat zum nächsten, bis die Wahl nach Wochen zum Schluss in Delhi ankommt. Nächste Woche also wird man wissen, ob Ghandis Nachfolgepartei wieder gewählt worden ist.
Mein Tuc Tuc Fahrer kennt sich aus. Wir unterhalten uns prima. Er fragt viel: Ob ich Familie habe? Ob sich die Europäer vertragen? Und was ich von Pakistan halte? Zu dieser Frage muss man allerdings wissen, dass sich Pakistani und Inder nicht sonderlich mögen und immer wieder versuchen, verbalen Krieg zu führen. Zumindest drohen sie damit alle paar Monate. Das kann einen Europäer schon erschrecken, denn beide Nationen sollen ja Atombomben haben. Mich erschreckt dies nicht, denn ich bin Drohungen aus Korea mittlerweile gewohnt, wo ich ja öfters bin.
Mein Tuc Tuc Fahrer redet aber nicht nur gute Sachen, sondern fährt mich auch durch Neu Delhi und wird zu meinem Fremdenführer. Zeige mir die Stadt, habe ich ihn gebeten. Er zeigt mir zuerst das Verteidigungsministerium, ein herrschaftlicher Kolonialbau auf einer Anhöhe am Ende des Boulevards zum Gate of India. Von dort hat man einen besten Überblick auf die Großzügigkeit Neu Delhis – ja auf den fast verschwenderischen Stadtbaustil der damaligen britischen Kronkolonie. Mein Tuc Tuc Fahrer darf eigentlich nicht so nah an das Verteidigungsministerium heranfahren, er tut es aber trotzdem und lässt mich dort aus dem Tuc Tuc heraus springen, so dass ich ein paar Fotos und einen kleinen Spaziergang machen kann. Ich bin dort ganz allein, es ist kein Inder und auch ein Tourist zu sehen. Nur ein paar Wachsoldaten, die mich verscheuchen wollen.
Alle 10 Minuten kommt mein Tuc Tuc Fahrer wieder vorbei, doch erst beim dritten Mal springe ich wieder auf: Es geht jetzt nonstop zum Gate of India. Auch dort machen wir eine Pause. Ich spaziere um das Gate und durch den Park, wo an diesem Wochenende ganz viele Inder ihr Picknick feiern. Es gibt Straßenverkäufer, fahrbare Buden und überall ist etwas los. Es sind aber eher die Inder der höheren Kasten, die sich am Gate of India in Neu Delhi aufhalten. Man könnte sagen, es ist die gut-bürgerliche Oberschicht (wenn eine solche Übersetzung erlaubt ist). Die unteren Kasten, die Unterschicht also, die wohnt in Alt Delhi. Dort will ich unbedingt hin. Mein Tuc Tuc Fahrer fährt mich über kleinere Umwege zum Ziel – Umwege deshalb, damit ich noch den ein oder andere sehenswerte Strasse sehe, oder eine Park, oder ein interessantes Gebäude in Neu Delhi. Er ist mein Fremdenführer durch Neu Delhi geworden.
Wir sind in Alt Delhi angekommen: dort, wo die Strassen nicht mehr so breit sind, wo die Häuser nicht mehr herrschaftlich sind, wo es von Menschen nur so wimmelt, wo es schmale Gassen gibt. Mein Tuc Tuc Fahrer macht sich deshalb Sorgen um mich: Ich möchte mich ins Getümmel werfen, ich möchte per Rickscha weiterfahren, ich möchte zu Fuß durch schmale Gassen gehen – ich möchte Alt Delhi erleben, riechen und spüren. Sehr gefährlich, meint mein Tuc Tuc Fahrer, zu gefährlich. Ich solle aufpassen und sehr vorsichtig sein. Ich solle vor allem in keine kleinen Gassen gehen, da finde ich nicht mehr heraus aus dem Labyrinth. Er will auf mich warten, gerne drei Stunden oder länger. Ich sage ihm aber, dass ich gar nicht weiß, wo in drei Stunden bin – vielleicht hier, vielleicht woanders, vielleicht am Grabe Mahatma Gandhis. Er solle sich keine Sorgen machen um mich, und zum Hotel finde ich schon wieder zurück, denn schließlich habe ich ja die Adresse mit indischen Zeichen. Ich bezahle ihn für seine Dienste. 120 Rupien hätte ich zahlen sollen (so hat es meine Reiseleiterin mir aufgetragen), 700 Rupien zahle ich ihm. Und ich empfinde es als angemessen, denn er ist ein außergewöhnlicher Tuc Tuc Fahrer. Er ist gebildet. Er ist ein Fremdenführer, der sich für die Wünsche des Gastes interessiert. Und ihm gönne ich das Geld wirklich, so dass seine beiden Söhne mal studieren können. Die 700 Rupien würden zumindest für beide schon mal reichen, einen oder zwei Monate zusammen auf dem Campus im Studentenwohnheim wohnen zu können.
Da trennen sich nun unsere Wege. Ich gehe ins Getümmel, mein Tuc Tuc Fahrer schaut mir hinterher. Ich bin weg, und ich sehe ihn nicht mehr, als ich mich nochmals umdrehe. Ich spüre nur, dass ich diesen Tuc Tuc Fahrer lieb gewonnen hatte an diesem Vormittag. Er hat es geschafft, dass er mir binnen weniger Stunden ans Herz gewachsen ist. Noch heute denke ich an ihn zurück. Es war ein Glück für mich, dass er mich beim Spaziergang entdeckt hatte und ich in sein Tuc Tuc gestiegen bin. Einen besseren Vormittag in Delhi kann man nicht erleben.
Ich mache nun alles, wovor mich meine Reiseleiterin und mein Tuc Tuc Fahrer gewarnt haben. Ich nehme mir eine Rickscha und zeige dem Fahrer mit der Hand meine Wunschrichtung: dort hin also, ohne zu wissen, wo ich lande. Er radelt mich durch die engen Strassen. An manchen Wegverzweigungen muss ich mich entscheiden, wo hin ich nun will. Der Rickscha Fahrer schaut mich dann fragend an. Ich entscheide mich immer für den Weg, der enger ist, wo es immer mehr urtümlicher wird, wo man keinen Westeuropäer mehr sieht. Irgendwann wird es mir aber zu eng, und ich zeige dem Fahrer, dass er jetzt wieder zurückradeln solle, wo wir gerade hergekommen sind. Er strampelt sich ab, er schwitzt, er tut mir irgendwo leid, aber es ist sein Job. Wir landen dann genau dort, wo mich mein Tuc Tuc Fahrer abgesetzt hatte. Aber er ist nicht mehr da. Ich merke in diesem Moment, dass mir mein Tuc Tuc Fahrer wirklich ans Herz gewachsen ist.
Mein nächstes Ziel: Blick in keine Gassen, man würde angeberisch sagen, Blick hinter die Kulissen. Ich erkunde also zu Fuß kleine Gassen, in der nicht ein mal eine Rickscha passt, in den Hosen- und Westentaschen mehr als 40.000 Rupien, womit ich ein bestes Überfallopfer wäre, aber niemand überfällt mich. Es sind kleine, ja kleinste Gassen – manchmal nur einen Meter breit. Fotos mit meinem IPhone mache ich hier nicht, das traue ich mich nicht mehr, denn ich bin hier wirklich der Fremde in einer ganz anderen fremden Kultur. Aber es reizt mich ungemein, die Gassen und das Leben dort zu erkunden. Viele Inder schauen mich streng an, als ob ich ein Eindringling sei. Ja, ich bin es! Auch kleine Kinder sind nicht begeistert, dass ich hier so durch die Gassen gehe. Man kreischt, man schreit, man redet, man hat mich bemerkt – viele Kinder laufen davon. Ich werde nicht angebettelt, sondern eher mit Abstand beobachtet. Ich bin ein Fremder! Ein Fremder, nicht einmal einen Kilometer entfernt vom Fort aus Alt Delhi, dass eine der großen Touristenattraktionen ist. Ich bin fremd hier in den Gassen – und beginne mich auch unwohl zu fühlen. Ich habe sonderbarerweise überhaupt keine Angst, dass ich überfallen werden könnte, weil ich doch über 40.000 Rupien in der Hosen- und Westentasche habe. Nein, davor habe ich keine Angst. Ich fühle nur, dass ich gerade dabei bin, in eine soziale Kultur einzudringen, für die ich keine Berechtigung habe.
Bald finde ich in einer Gasse einen kleinen Laden, vielleicht 4 Quadratmeter groß. Ich sehe, dass es dort Cola gibt. Ich frage, wie viel sie kostet. Die Antwort bekomme ich auf dem Taschenrechner: 10 steht da, also 10 Rupien. Der Ladenbesitzer bittet mich in seinen kleinen Laden. Ich setzte mich auf eine Kiste und trinke die Cola. Ich lächle, der Ladenbesitzer lächelt auch. Auch Kinder kommen und lächeln jetzt. Wir grinsen. Wir geben uns Handzeichen. Alles ist irgendwie interessant. Ich für die Kinder, die Kinder für mich. Und er Ladenbesitzer. Wir reden nicht, denn wir sprechen ja unterschiedliche Sprachen. Wir unterhalten und über die Blicke, über Gestik und Mimik. Plötzlich fühle ich mich in der Gasse wieder wohl.
Nach dieser Cola entscheide ich, hier nicht weiter in das Leben von Alt Delhi einzudringen. Ich besuche an diesem Nachmittag noch die Grabstätte Gandhis, schaue mir von außen das rote Fort an und gehe auch in die Moschee – also die bekannten Stellen Alt Delhis. Als ich zurück in meinem Hotel in Neu Delhi bin, denke ich mir: Andreas, du hast gerade einen fantastischen Erlebnistag gehabt, so intensiv, wie selten. Im Hotel abends speise ich dann komfortabel und nobel Chicken Curry, und das schmeckt!